Pferde-Wallfahrt im Chiemgau

Wenn der Herold den Stab hebt

Hie gut allweg – alten Brauches pfleg, nach Ettendorf wir reiten – wie zu Väters Zeiten.“ Hoch zu Ross spricht der Herold mit fester Stimme diese Worte und hebt seinen Stab, worauf sich eine der größten Pferde-Wallfahrten in Deutschland auf ihren beschwerlichen Weg macht – begleitet vom machtvollen Geläut aller Kirchenglocken.

Es ist 10 Uhr am Ostermontag in Traunstein im Chiemgau. Auf dem Stadtplatz, zu Füßen der Pfarrkirche, hat sich eine große Menschenmenge gebildet. Aus allen Richtungen treffen Reiterinnen und Reiter in historischen Kostümen ein. Knapp 400 prächtig geschmückte Pferde werden es schließlich sein, die dem Herold beim Traunsteiner Georgi-Ritt zur kleinen, mehr als 1000 Jahre alten Ettendorfer Kirche folgen. Erhaben liegt sie auf einem Hügel hoch über der Stadt. Einst war hier eine heidnische Kultstätte. 

Römer, Ritter, Hofdamen

Simon Schreiber ist neuer Vorsitzender des Georgi-Vereins und genießt als solcher das Privileg, den Herold verkörpern zu dürfen. „Das Alleinstellungsmerkmal unseres Rittes ist – neben der Größe – die Historische Gruppe, die ich anführe.“ Dem Herold folgen bedeutende Persönlichkeiten aus der Stadtgeschichte wie der Lindl und der Eiserne Ritter, beide in Rüstungen. Sie symbolisieren die Wehrhaftigkeit der Stadt im Mittelalter. Römische Reiter sind ebenso dabei wie Landsknechte und höfische Damen. 

Natürlich hat auch der heilige Georg seinen Auftritt. „Er ist der Schutzpatron der Tiere“, weiß Schreiber. Ein Job, den er sich mit dem heiligen Leonhard teilt, der ebenfalls in Form von Prozessionen verehrt wird. 

„Der Georgi-Ritt hält den Wert des Tieres im Bewusstsein und spielt eine wichtige Rolle für die Bewahrung bäuerlicher Kultur“, erklärte die Unesco-Kommission 2016, als sie ihn ins bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes einschrieb. Der älteste Nachweis des Traunsteiner Ritts datiert aus dem Jahr 1762. 

„Dass wir den Titel erhalten haben, liegt auch daran, dass im Laufe der Zeit nichts verkitscht wurde“, meint der Vorsitzende des rund 600 Mitglieder starken ­St.-
Georg-Vereins, der dafür sorgt, dass das so bleibt. Deshalb will der Ende des 19. Jahrhunderts gegründete Verein auch weiter die Bitten der örtlichen Brauereien, Bierstände aufstellen zu dürfen, ablehnen. „Der Wallfahrt-Charakter soll bewahrt werden“, erklärt Schreiber. 

Über sieben Kilometer verläuft die Prozession, drei Hügel müssen von den Pferden gemeistert werden. Nicht einfach, wenn man auch noch Kutschen voller Musikanten ziehen muss. Trotz der Anstrengungen und trotz der lauten Musik: Die Pferde blieben ruhig, versichert Simon Schreiber. „Es sind Kaltblüter, und die meisten sind auch nicht das erste Mal beim Ritt dabei.“ 

Panorama-Blick

Den Anstieg zur Ettendorfer Kirche belohnt das famose Panorama der nahen Chiemgauer Alpen. Auf den Wiesen, auf denen schon der Löwenzahn blüht, haben es sich Schaulustige auf Decken bequem gemacht – nicht selten drei Generationen. Sie sehen einen farbenfrohen Zug vorbeiziehen, in dem gebetet, gesungen und musiziert wird. 

Auch die Dörfer aus der Umgebung sind mit eigenen Abordnungen in Tracht vertreten. Man erkennt sie an den stolz gezeigten Standarten mit dem Gemeindewappen. In der Fastenzeit werden im Normalfall alle 14 Gemeinden besucht und im festlichen Rahmen von sogenannten Ritt-Bitten zur Teilnahme am Ostermontag eingeladen. Dieser Brauch ist Bestandteil des Traunsteiner Georgi-Ritts und stärkt den regionalen Zusammenhalt. 

Der Historischen Gruppe folgt der Zug der Geistlichen mit dem Georgs-Wagen, auf dem der Heilige den Drachen erlegt. Vier Mädchen tragen das Modell der Ettendorfer Kirche, dem Ort des Bitt- und Dankgottesdienstes. Auch lachende Kinder auf Ponys haben sich in den Zug eingereiht. 

Jetzt hat der Herold mit seinem Gefolge die Kirche erreicht. Von der sogenannten Segnungstreppe am kleinen Gotteshaus spendet ein Priester den Segen an die Vorbeireitenden. Danach umrunden sie das Gebäude und machen sich nach einer Verschnaufpause auf den Rückweg. Am Stadtplatz erhalten Ross und Reiter dann ihren zweiten Segen. Dieses Mal sitzt der Pfarrer selbst im Sattel. 

Um 14 Uhr marschieren die Fahnenschwinger auf die Bühne und kündigen den Auftritt der Schwerttänzer an. Unmissverständliche präsentieren sie ihre Waffen: Jetzt soll es dem Winter an den Kragen gehen! Wohl um sicherzugehen, dass es der Frühling auch wirklich schafft, findet der Tanz zweimal statt – vor und nach dem Georgi-Ritt.

Sieg des Frühlings 

Der Winter, der von zwei jungen Burschen, den Wurstln, dargestellt wird, zeigt sich zunächst noch in bester Verfassung. Die Wurstl springen wild herum und schlagen das Rad. Dann kommen ihnen die zahlenmäßig deutlich überlegenen Frühlingsboten bedrohlich nahe. Angeführt werden sie von einem Herrn in roter Tracht. Sein Gefolge trägt blaue, grüne sowie schwarze Westen und Hosen. Es ist die Tracht der Landsknechte aus dem 16. Jahrhundert. 

Schließlich haben sie die beiden Wintergeister umzingelt und zielen mit ihren Schwertern auf die Hälse der Wurstl. Keine Chance, der Frühling hat gesiegt. Auf der Plattform, die die zusammengesteckten Schwerter bilden, wird der Anführer emporgehoben und dem Publikum präsentiert. 

„Der Schwertertanz, der sich bis ins Jahr 1530 zurückverfolgen lässt, war ursprünglich ein eigener Brauch“, informiert Simon Schreiber. Während der Säkularisation verboten, dann vergessen, sei diese Tradition in den 1920er Jahren wiederentdeckt worden. Seit 1926 wird sie mit dem Ritt kombiniert. Daher gehören beide Bräuche zum Immateriellen Erbe Deutschlands. 

Und siehe da: Schon scheint die Sonne vom bayerisch weiß-blauen Himmel. Der Eiserne Ritter hat seine Stadt wieder einmal vor Schlimmem bewahrt. Nun hebt er sein Visier und lächelt in die Menge. Wahrscheinlich ist er froh, dass er bald die schwere Rüstung ablegen darf. Währenddessen marschieren die Schwerttänzer stolz über den Platz. 

Im Schatten der Kirche sieht man den Pfarrer, wie er liebevoll sein Pferd streichelt. Und das Volk lässt es sich in den Biergärten gutgehen. Nur die Wurstln, die sucht man vergeblich.

Ulrich Traub 

Information

Der Georgi-Ritt findet nach zweijähriger Corona-Pause am Ostermontag statt.

Weitere Infos im Internet unter www.georgi-verein.de.